
Schützenkönig wider Willen – ein Blick zurück
Über dem Albisgüetli liegt am Morgen des 13. September 1982 dichter Nebel. Ans Schiessen ist vorerst nicht zu denken. Warten ist angesagt. Ehrlich gesagt wollte ich dieses Jahr gar nicht ans Knabenschiessen. An die Chilbi schon, aber sicher nicht teilnehmen. Mein Vater findet jedoch, dass man als «Züribueb» einfach mitmachen müsse. Um sicher zu gehen, dass ich nicht auf falsche Gedanken komme, fährt er mich gerade selbst ans Knabenschiessen, was ich mit einer frechen Antwort quittiere: «Einmal gehe ich noch – und werde Schützenkönig!»
Der Nebel verzieht sich. Endlich. Frank, mein Schulkollege, wird immer ungeduldiger. Wir wollen auf die Chilbi. Also versuche ich das Schiessen so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Einen Schuss nach dem anderen feuere ich auf die Scheibe. Dann will ich gehen. Mein Instruktor hindert mich daran, winkt einem Kollegen zu und redet von «34 Punkten». Ich schaue zu Frank, zucke mit der Schulter. Der begreift die Welt nicht mehr. Ich auch nicht.
Ich müsse in den Ausstich, heisst es. Keine Chance, auf die Chilbi zu gehen. «Ich, Schützenkönig, das ist ja zum Lachen», geht es mir durch den Kopf. Ich, der von allem, was mit Schiessen und Gewehren zu tun hat, möglichst nichts wissen will. Unheimlich, was mir da geschieht. Deshalb nehme ich es im Ausstich nicht ganz so genau mit dem Zielen. Der letzte Schuss ein «Einer». Das war es wohl. Ja, das war es! Der eine Punkt, der mich von meinem nächsten Mitbewerber trennt. Ich bin Schützenkönig.
Ich erhalte Blumen. Eine Standarte wird mir in die Hand gedrückt. Werde von Ehrenjungfrauen geküsst. Gratulationen vom Stadtpräsidenten. In allen Varianten fotografiert, farbig und schwarzweiss. Ich gebe meine ersten Interviews und werde in einem kurzen Triumphzug ins nahe Schützenhaus zur Königsfeier eskortiert. Frank lächelt ungläubig, irgendwo in der Menge. Es wird wohl nichts mit der Chilbi.
Alle sind stolz. Mein Vater, meine Mutter, meine Schwester, Verwandte und Freunde. Meine Kolleginnen, Kollegen und Lehrer vom Literargymnasium Rämibühl. Das ganze Quartier freut sich: ein Schützenkönig aus Höngg! Am nächsten Tag begegne ich mir überall in den Zeitungen, als ich im Bus zur Schule fahre. Bin in den Schlagzeilen. Gerade neben Grace Kelly, die in Monaco verunglückt ist.
Ich bin Schützenkönig 1982. Unglaublich, aber wahr. Heute noch genauso wie damals. Eine Ironie des Schicksals? Vielleicht. Sicher aber ein unvergessliches Erlebnis.
Eric Langner lebt in Zürich und arbeitet als freier Journalist, Kommunikationsberater und Autor.